150 Jahre Alfred Adler. Verständnis, Empathie, Ermutigung

Der Gründer der Individualpsychologie darf gefeiert werden. Wir verdanken ihm sehr vieles. Verständnis, Empathie und Ermutigung sind nur drei von vielen von ihm geförderten Massnahmen, die Dank Adler zu einem besseren Miteinander führen. Nachfolgend Schwerpunkte aus dem Schaffen von Alfred Adler und eine chronologische Auflistung welche die Entwicklung der Individualpsychologie zeigen.

 Herkunft, Einflüsse und Weltbild Alfred Adlers

Alfred Adler war eine tatkräftige Persönlichkeit: Er war für die öffentliche Gesundheit und die soziale Wohlfahrt tätig. Er setzte sich für benachteiligte Kinder und die Frauenrechte ein. Adler leistete Pionierarbeit in der medizinischen Prävention und Gesundheitspsychologie.

Er förderte die Erwachsenenbildung, hatte Einfluss auf die Lehrerausbildung, Familientherapie und Familienberatung.

Dazu schrieb er, hielt Vorträge und praktizierte. Mitte der 1920er Jahre hatte die Individualpsychologie in Europa und den USA weiter Verbreitung gefunden, was nicht zuletzt mit Adlers reger Reise- und Vortragstätigkeit zusammenhing. Adler blieb zeitlebens humorvoll-bescheiden.

Das Menschenbild von Alfred Adler war vom Philosophen und Kant-Forscher Hans Vaihinger (1852-1933) beeinflusst. Unter einem Pseudonym hatte dieser ein Buch mit dem Titel Die Philosophie des Als-Ob» veröffentlicht. Fiktionen seien Gedankengebilde, schreibt er darin, nichts als erdachte, widersprüchliche Gebilde. Sie seien jedoch die Werkzeuge, die das Denken erst ermöglichten.

Hans Vaihinger

In Vaihingers Welt bedeutet Erkenntnis, Unbekanntes mit Bekannten zu vergleichen. Die Erkenntnis kommt an ihr Ende, wenn sich Unbekanntes nicht mehr auf Bekanntes reduzieren lässt. Nach Vaihinger kann der Mensch die Realität der Welt nicht wirklich kennen. Als Folge konstruiert er Denksysteme und glaubt, dass sie mit der Realität übereinstimmen. Im Ergebnis verhalten sich Menschen so, als ob ihr Verhalten in die Welt passt.

Vaihinger wunderte sich in seinem Buch darüber, dass Menschen falsche Annahmen treffen und dennoch zu richtigen Ergebnissen kommen. Wissen kann daher aus seiner Sicht nur pragmatisch begründet sein, nämlich dann, wenn sich Erfolg bei seiner Anwendung einstellt. Entscheidend ist, ob es nützlich ist, so zu handeln, als seien die Erkenntnisse .

Frag nicht, was das Leben dir gibt, frag was du gibst. Alfred Adler

Der Perspektivenwechsel in der Beratung

Im Zentrum des Adlerianischen Beratungsverständnis steht eine Frage an seine Klienten: „Was würden Sie tun, wenn Sie bei mir Ihre Heilung erlangten?“ (Adler 1918 zitiert in Brunner / Titze (1995), S. 186) Oder alternativ: „Was wäre anders, wenn Sie dieses Symptom oder Problem nicht hätten?“

Adler ging es darum, Hintergründe und Zusammenhänge zu erfahren, denn die Beschreibung eines Problems aus der Sicht des Klienten öffnet das Tor zur Lösung. Nach Adler verbirgt sich in der Antwort sein Angstfeld, welches verantwortlich ist, dass er nicht handelt.

„Als ob“ es geglückt wäre. „Tue so, als ob es wirkungsvoll ist“ hat Paul Watzlawicks diesen Beratungsansatz populär gemacht. „So tun, als ob“ die handlungsleitende Idee funktioniert. Ein Konzept in der Beratung, welches sich in heute in verschiedenen psychologischen Schulen wieder findet. Adler übertrug als erster die Theorie von Vaihinger in das Beratungsgespräch.

Was wäre anders, wenn Sie dieses Symptom bzw. Problem nicht hätten? - Alfred Adler

Im Beratungsgespräch braucht es Menschenkenntnis und Intuition

Alfred Adler verfügte über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Über die Jahre reifte sie zur Intuition. Schon mit wenigen Beobachtungen gelangen ihm Erkenntnisse, für die andere deutlich mehr Aufwand treiben mussten. Auch brauchte er nur wenige Angaben zu einer Krankengeschichte, um den roten Faden darin zu erkennen – selbst, wenn er den Klienten persönlich nicht weiter kannte. In direkten Begegnungen verlegte er sich wesentlich auf die Beobachtung und zog aus dem Verhalten seines Klienten seine Schlüsse.

Adler selbst nannte sein Vorgehen „Erraten». Es ist vielfach diskutiert worden, auch kontrovers. Adler selbst kommentierte es so:

„Wenn wir fragen, unter welchen Bedingungen hat das vorliegende Leiden einen Sinn, eine Berechtigung, so erhalten wir bis zu einem gewissen Grade einen Einblick“ (Eife 2018, S. 284)

Das Zitat macht deutlich, welch hohe Bedeutung Adler dem fokussierten Zuhören und dem Einfühlen in andere zumass. Sein Anspruch war, „mit den Augen eines Anderen zu sehen, mit den Ohren eines Anderen zu hören, mit dem Herzen eines Anderen zu fühlen“ (ebd. S. 315).

Das „Enträtseln und Durchschauen» folgte einem Prinzip, dass er so zusammenfasste: „Wir finden bald den richtigen Zusammenhang [des Lebensstils], wenn wir uns selbst die Frage vorlegen: Unter welchen Umständen wäre auch ich ein lügenhaftes Kind? Wenn ich zum Beispiel einer Sache gegenüberstehe, die sehr bedrohlich aussieht, der ich mich nicht gewachsen fühle, werde ich unter Umständen auch genötigt sein, zu der Sicherung der Lüge zu greifen“ (ebd. S. 32).

Die Kunst des Erratens hat manche Parallelen, zudem was Steve de Shazer in den 1980er Jahren als „Wunderfrage“ bekannt machte. Adlers Ansatz ging allerdings weiter, weil er die Hintergründe und Zusammenhänge erfahren wollte, die unerlässlich sind, um durch die Problemschilderung zu einer Lösung zu kommen. Um menschliches Handeln besser zu verstehen, ist die lösungs- und ressourcenorientierte Fragestellung „Was wäre anders, wenn …?“ unbedingt mit einzubeziehen. Der Perspektivenwechseln ist aus der systemischen, wie auch lösungsorientierten Beratung nicht mehr wegzudenken.

Was wäre anders, wenn Sie dieses Symptom bzw. Problem nicht hätten? - Alfred Adler

Beratung braucht Verständnis und Empathie

„Heilen“, sagt Adler, „kann ich sie nur mit der Wahrheit, bis zu der ich selbst vorgedrungen bin“ (ebd. S.32). Für Therapeuten, Coaches und psychosoziale Berater gilt deshalb bis heute das einfühlende Aufbereiten von Zusammenhängen als Hauptaufgabe.

Basis dafür sind ein einfühlendes Verständnis, eine hohe Empathie und Ermutigung für den Coachee und seine Situation und Fragen.

Adler geht sogar noch einen Schritt weiter: „Wir halten einen Fall erst dann für geklärt und getrauen uns von Heilung zu sprechen, wenn wir verstehen können, warum der Patient diese und gerade diese Form des fehlerhaften Agierens gewählt hat. Noch mehr: Wenn wir uns eingestehen, dass unter den gleichen Verhältnissen wir zu der gleichen neurotischen Lebensform gekommen wären“ (ebd. S. 32).

Zweierlei wird hier deutlich: das aussergewöhnlich hohe Mass an Empathie ebenso wie der Appell an die Selbstverantwortung des Klienten, seine Lebensaufgabe anzunehmen.

Seinen Kritikern hält Adler 1930 entgegen: „Ich halte es für ausgeschlossen, dass ein denkender Kopf uns den Vorwurf machen könnte, wir hätten es aufs Erraten abgesehen oder hätten es in der Kunst des Erratens zu einer gewissen Fertigkeit . In der Tat, ich halte es immer für meine vorzüglichste Aufgabe, meine Schüler in der Kunst des Erratens auszubilden.» (Alfred Adler 1930. S.39)

Wahrnehmungsverzerrungen: Weshalb wir nur eine Hälfte sehen

Im Persönlichkeitsmodell Alfred Adlers spielt die „tendenziöse Apperzeption» eine wichtige Rolle. Die begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen ist ein Teil davon. Menschen sind demnach nicht in der Lage, die Welt ungefiltert zu erkennen. Vielmehr ist die Wahrnehmung abhängig von der eigenen Sichtweise und ihrer privaten Logik.

Schon als Kind versucht jeder, sich einen Platz in der Welt zu erobern und seinem Selbst einen Wert zu geben. Es bildet sich eine Meinung von sich, seiner Umwelt und seinen Mitmenschen. Zugleich entwickelt es schon früh eine individuelle Strategie, die Welt einzuschätzen und in ihr zurechtzukommen – den Lebensstil. Der Lebensstil ist Ausdruck der privaten Logik.

Die Bausteine des Lebensstils sind die persönlichen Lebenserfahrungen. Aus ihnen ergibt sich der Wahrnehmungsfilter, der zu Wahrnehmungsverzerrungen führt.

Seiner Wahrnehmungslogik folgend strebt der Mensch nach einem Ziel. Er verfolgt einen Zweck, wobei ihm dieser nicht immer bewusst ist. Wegen dieser Finalität des Verhaltens fragt Adler nicht etwa: „Warum tut er das?», sondern: „Wozu tut er es?»

In der Alltagssprache hat sich das Wort von der „selektiven Wahrnehmung» eingebürgert: Menschen erfassen nur das, was für sie von Belang ist, und in ihr Bewertungsschema passt. Ein identischer Sachverhalt wird deshalb von verschiedenen Menschen auf verschiedene Weise wahrgenommen und verarbeitet. Jede Wahrheit ist somit subjektiv.

Der Konstruktivismus unterstreicht, dass jeder Mensch aufgrund seiner Sinneseindrücke eine subjektive Realität erzeugt – und zwar aktiv. Der Geist weist den wahrgenommenen Sinneseindrücken eine Bedeutung zu, wobei die wahrgenommene Realität stark von der individuellen Prägung abhängt. Paul Watzlawick wird zum bekanntesten Vertreter. Sein Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ wurde ein Standardwerk in der Psychologie.

Es kommt nicht darauf an, was einer mitbringt, sondern darauf, was er daraus macht. - Alfred Adler

Irrtümer und Fehlverhalten durch den Lebensstil

Die tendenziöse Apperzeption schliesst alles ein, was der Mensch bewusst oder unbewusst wahrnimmt, erlebt und bewertet. Ichhaftigkeit und Wahrnehmungsverzerrungen der Wirklichkeit sind insoweit normal. Irrtümer und Fehlverhalten können die Folge sein.

Die tendenziöse Apperzeption bildet die Wurzeln für Konstruktivismus. Dieser betont, dass jeder Mensch aufgrund seiner Sinneseindrücke eine subjektive Realität erzeugt. Der Mensch weist den wahrgenommenen Sinneseindrücken eine Bedeutung zu, wobei die wahrgenommene Realität stark von der individuellen Prägung abhängt.

Vereinfacht kann man sagen: Alles liegt im Auge des Betrachters. Und hier liegt der entscheidende Punkt im Beratungskonzept von Alfred Adler: Der Betrachtungswinkel kann stets geändert werden – und damit die Gestaltung des Lebens sowie dessen Herausforderungen.

Alfred Adler spricht von der „schöpferischen Kraft» als ureigener, dem Menschen zur Verfügung stehender Gestaltungskraft. „Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit.» (Adler 1930a. S. 7)

Alder formulierte 1912 die Ich-Psychologie, indem er beschrieb wie jeder Mensch seinen Lebensstil individuell formt. Eric Berne übernahm das Konzept benannte dies Lebens-Skript. Alltagssprachlich spricht man heute über Glaubenssätze. Doch das Unbewusste in der persönlichen Entwicklung legt die Grundstrukturen und prägt das Verhalten. Ohne Selbstreflektion und Lebensstilkorrektur tut der Mensch immer wieder das, was er aus der Vergangenheit mitgebracht hat (vgl. auch https://coachingplus.ch/glaubenssatze-ausbildung-individualpsychologie-alfred-adler/).

Mit Ermutigung zum inneren Wachstum

Sobald der Mensch seinen Lebensstil durchschaut, hat er im Prinzip alles, um die hinderlichen Anteile zu überwinden. Doch das Verständnis alleine genügt nicht. Was noch fehlt, ist die Ermutigung. Mut ist die alles überragende Triebfeder, wenn Menschen über sich selbst hinauswachsen. Keine andere innere Kraft ist so direkt mit der persönlichen Entwicklung verbunden. Mut führt immer zum Tun und Handeln.

Ab dem Jahr 1923 richtete Adler seine Aufmerksamkeit zunehmend auf diesen Aspekt. Adler schrieb, dass „nicht die Krankheit rezidiviert, sondern die Entmutigung“ (ebd. S.30).

Für Adler waren „die Ursachen der Entmutigung“ im Kern „immer irrtümlich.“ Dabei holte er weit aus, denn er sah nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern stellte fest, dass „die ganze Menschheit zur Entmutigung neigt“ (ebd. S. 30).

Die zunehmende Sensibilität für das Problem der Entmutigung beeinflusste die therapeutische Arbeit Adlers zunehmend. Er kam zum Schluss, dass er seine Patienten „erst ermutigen“ musste, bevor er sie „ins Leben hinausschickte“ (ebd. S. 213).

Adler legte Wert darauf, sich von der pädagogisch üblichen Teil-Ermutigung zu lösen. Stattdessen ging er daran eine Methode zu entwickeln, die „unabhängig und selbständig macht, weil sie die wirksamen Ursachen der Entmutigung behebt“ (ebd. S. 204).

Damit unterschied er sich von anderen, gängigen Methoden. Anders als bei seinen Kollegen üblich, legte er seinen Blick auf den Gesamtzusammenhang des Lebensstils eines Patienten. Nur so, so Adler, könne der Patient ein zunehmendes Verständnis für sich selbst entwickeln. 1926 ging Adler so weit, seinen Ansatz als die „Methode der uneingeschränkten Ermutigung“ (ebd. S. 276) zu bezeichnen.

Ermutigung und Wertschätzung sind Grundpfeiler der individualpsychologischen Beratung. Dies geschieht im Wissen darum, dass jeder Mensch wertvoll ist, wie er ist. Carl Rogers beschreibt dies als Grundhaltung der Gesprächstherapie: Akzeptieren, Anteilnahme oder Wertschätzung.

Gemeinschaftsgefühl - Alfred Adler

Adler betonte das unteilbare Ganze des Menschen und seine Zielorientierung

Alfred Adler und Sigmund Freud kannten sich gut und pflegten über Jahre einen intensiven Austausch. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Psychologen besteht im Menschenbild.

Freud betonte die Aufspaltung der Persönlichkeit. Er ging von der Vorstellung aus, dass sich Anteile des Menschen gegenseitig bekämpften. Adler hingegen betonte das unteilbare Ganze.

Der Name „Individualpsychologie“ bezieht sich auf den Menschen als Einheit. Die Betonung des Holismus spiegelt ein Grundverständnis der Individualpsychologie wider. Diese ganzheitliche Sichtweise wird 1950 in der Gestaltpsychologie durch Fritz Perls vertieft.

Im Weiteren ist nach Adler das menschliche Verhalten immer zielgerichtet. Das heisst, der Mensch verfolgt aufgrund seines Lebensstils und der privaten Logik seine eigenen Ziele. Das Verhalten eines Menschen kann man deshalb nur verstehen, wenn man dessen private Ziele kennt und versteht.

Der systemische Zusammenhang

Verständnis ist jedoch nur im systemischen Zusammenhang vollständig möglich, weil der Mensch ein soziales Wesen ist. Die Systemtheorie zählt heute zu den wichtigsten und prägendsten Konzepten im Coaching. Sie betont, dass nicht allein das Individuum behandlungsbedürftig ist, sondern zugleich die Familie, die es geprägt hat.

Das Menschenbild der Individualpsychologie kann mit folgenden Worten zusammengefasst werden:

  • „einzigartiges, ganzheitliches und schöpferisches
  • in untrennbarer Beziehung zu anderen stehendes
  • zielgerichtetes und Entscheidungen treffendes
  • selbst verantwortliches Einzelwesen“ (Bayer 1995. S. 19)

Adler, der Begründer der Individualpsychologie hat den Einzelnen als Teil der Gesellschaft beschrieben, das Verhältnis zwischen Arzt und Patient neu formuliert und eine holistische Psychologie geschaffen.

Der Mensch weiss viel mehr, als er versteht - Alfred Adler

Leben und Werk Alfred Adlers. Chronologische Auflistung welche die Entwicklung der Individualpsychologie zeigen

1898

Bereits im Alter von 28 Jahren veröffentlichte er das „Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe“. Was uns heute selbstverständlich erscheint, war damals ein neuer, revolutionärer Gedanke: Die wirtschaftliche Situation wirkt sich auf den Gesundheitszustand eines Menschen aus. Adler beschrieb den Zusammenhang im Vorwort seines Buches. Zugleich betonte er, dass die öffentliche Gesundheit Schaden nehmen könnte, wenn das Problem unterschätzt bleibt.

1902

Ab 1902 wird Adler Mitglied der Mittwochsgesellschaft im Hause Sigmund Freuds. Die fünf Mitglieder dieser Gesellschaft werden später zu den Gründern der Psychoanalytischen Vereinigung.

1904

Alfred Adler war zeitlebens ein fleissiger Denker und Schreiber. 1904 veröffentlichte er einen Aufsatz: „Der Arzt als Erzieher“ und skizziert darin bereits eine vollständige Theorie der Erziehung.

Das Kind brauche Liebe, Zuneigung und liebevolle Beschützer, schreibt er darin. Denn das „Selbstvertrauen des Kindes,   .» (Adler 1922 S.7). Er forderte eine gewaltfreie, ermutigende und fördernde Erziehung.

Zugleich betont Adler die Verantwortung des Arztes für die körperliche Entwicklung des Kindes, wobei „von der körperlichen Entwicklung … die geistige nicht zu trennen» ist (ebd. S. 2). Die Erziehungsberatung gehöre zu den Aufgaben eines Arztes. Erstmals erwähnt er die Rolle der „Organminderheit».

1907

„Studie über die Minderwertigkeit von Organen“ war nur folgerichtig. „Mensch sein heisst, sich minderwertig zu fühlen» (Adler 1973. S. 78), wurde zu einem viel zitierten Wort Adlers. Angesprochen darauf, dass er so häufig über das Minderwertigkeitsgefühl geschrieben hatte, kommentierte seine Enkelin Margot Adler: „Ja, und er hat es uns allen weitergegeben.»

In der Publikation werden bereits Unterschiede zu den Ansätzen Freuds deutlich.

1908

1908 veröffentlicht er einen Aufsatz über das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. Seine Gedanken darin werden seine Theorie stark beeinflussen. Das Zärtlichkeitsbedürfnis betont die Objektbeziehungstheorie: „Es ist Bestandteil und Vorläufer der Gemeinschaftsgefühle» (Adler zitiert in Eife 2010. S. 77).

Die Mittwochsgesellschaft um Sigmund Freud wächst. Adler bleibt fasziniert von der Diskussionskultur, der Kreativität und dem Pioniergeist dieser Treffen. Zwischen 1908 und 1911 hat Adler den Vorsitz über die Mittwochsgesellschaft inne und erwirbt sich einen Ruf als einflussreicher, aktiver Redner und Diskussionsteilnehmer. 1910 wird er Herausgeber der internationalen Zeitschrift. Im Februar 1911 endet nach neun Jahren seine Zeit in der Mittwochsgesellschaft.

1911

1911 veröffentlicht Adler zwei Aufsätze mit den Titeln: „Probleme der Psychoanalyse“ und der „Männliche Protest“. Sie führen zum Bruch mit Sigmund Freud. Dieser erwartete von seiner Mittwochsgruppe vorbehaltlose Akzeptanz seiner Lehre. Zusammen mit Adler verliessen sechs weitere Mitglieder die Gruppe. Sie machten sich auf den Weg, eine neue Gruppe zu gründen.

Nach der Trennung von der Mittwochsgesellschaft entwickelte Adler die Individualpsychologie. Die Theorie fand rasche Verbreitung in Europa und den USA. Ihr Vorteil lag darin, Theorie und Praxis lehr- und erlernbar zu machen.

1912

Im Buch „Der nervöse Charakter» behandelt Adler ausführlich die Kompensation. Das darin beschriebene „Minderwertigkeitsgefühl» fand schnell Eingang in die Alltagssprache. Die Fachwelt gab sich zurückhaltender. Die Selbstabwertung stört in allen Lebenssituationen. Mancher fühlt sich derart entmutigt, dass er überhaupt nicht mehr handelt. Der Gegenpool dessen die narzisstische Persönlichkeitsstörung. Narzissten bauen ihren erreichten Erfolg nicht auf echtem Selbstwert auf. Sie verwenden viel mehr Schein als Sein.

In seinen Schriften entwirft er das Konzept des „Leitenden Plans» oder Lebensplans.

1913

Adler begann in der Beratung anhand allgemeiner Lebensfragen zu erläutern bzw. zu behandeln. Adler 1913. Später wurden diese Aspekte als die drei Lebensaufgaben zusammengefasst (Gemeinschaft, Arbeit und Liebe). (Adler 1929)

1915

Adler hält Vorlesungen über Erziehung und Menschenkunde. Zugleich führt er im Wiener Volksheim Ottakring, der grössten Volkshochschule Wiens, psychologische Lehrgänge durch. Sie wurden zum Auftakt für die psychologische Laienausbildung».

1917

Zwei Jahre später beschäftigt sich Adler mit der Geschwisterkonstellation. Die Position in der Geschwisterfolge ist ein entscheidender Ausgangspunkt in der Entwicklung des Individuums.

1918

Kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs gebraucht Adler in einem politischen Aufsatz „Bolschewismus und Seelenkunde“ den Begriff Gemeinschaftsgefühl. Darin rechnet er mit der bis dahin bestehenden Machtkultur ab. Nach seiner Auffassung ist es „zur verhängnisvollen Ausnützung des Gemeinschaftsgefühls durch das Streben der Macht“ (Adler 1918 zitiert in Brunner / Titze (1995), S. 186) gekommen. Macht ist für ihn der Ausdruck von fehlendem oder nur teilweise vorhandenem Gemeinschaftsgefühl. Machtstreben ist nur durch Gemeinschaftsgefühl zu korrigieren.

Adler formuliert den Gedanken, „den Menschen als ein Gemeinschaftswesen zu betrachten» (Adler 1966. S. 51).

Die Systemtheorie zählt zu den wichtigsten und prägendsten Konzepten im Coaching. Sie betont, dass nicht allein das Individuum behandlungsbedürftig ist, sondern zugleich die Familie, die es geprägt hat. Virginia Satir (1916-1988) hat den Gedanken erweitert und einen der wichtigsten Ansätze der systemischen Arbeit eingebracht: Danach muss eine Person immer im Kontext ihrer Situation gesehen werden.

Adler sah es als notwendig an, den Menschen in seiner familiären, sozialen und kulturellen Umgebung zu betrachten. In seinen öffentlichen Beratungen praktizierte er eine „systemische Kurzzeittherapie“. Dazu hat er „fast immer und von Beginn an sämtliche Familienmitglieder gleichzeitig zu seinen Gesprächspartnern gemacht; er hat auch die Aussprache mit den Eltern vor den Kindern bzw. das Gespräch mit den Kindern in Anwesenheit der Eltern durchgeführt.“(Riegel, S. 203). Auch interessierte Zuhörer waren willkommen. Adler betont zeitlebens die Zugehörigkeit. Der individuelle Mensch muss seinen Platz haben und sich diesbezüglich sicher fühlen.

Drei Jahre nach seinem Start in die psychologische Laienausbildung wird sein Einfluss in den Volksschulen sichtbar, und zwar im Rahmen der Erziehungsberatung. Bis 1927 eröffneten in Wien über 20 Erziehungsberatungsstellen.

1920

Mit der Zustimmung der Schulbehörden in Wien engagiert sich Adler in freien Erziehungsberatungsstellen. Die Erziehungsberatungen wurden mit einer Zuhörerschaft von 30 bis 50 Personen abgehalten. Die Selbsterfahrungsgruppen, welche Viktor Frankl und Carl Rogers in der Beratungsausbildung als selbstverständlich erachtenden, hatten in Wien ihren Anfang.

1923

Das Prinzip der Selbstverantwortung hält Einzug in die Individualpsychologie. Sie traut dem Menschen sehr viel Eigenverantwortung zu. Adler versteht seine ärztliche Intervention als Lernprozess für den Patienten. „Man soll sich strikt daran halten, die Behandlung und Heilung nicht als Erfolg des Beraters, sondern als Erfolg des Klienten zu sehen. Der Berater kann nur die Irrtümer zeigen, der Patient muss die Wahrheit lebendig machen.» (Adler 1974, S. 122)

1926

Adler führt die Begriffe „Lebenslinie» und „Bewegungslinie» ein. 1929 folgt der „Lebensstil».

1928

Adler beschreibt die identifikatorische Einfühlung und fordert vom Therapeuten, „mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen». (Ansbacher, S.112)

1930

Alfred Adler rät seinen Patienten mit dem ihm eigenen Humor, sich „ihrer Symptome zu erfreuen“. Der Gedanke ist als «Paradoxe Intervention» bekannt geworden.

Für den österreichisch-US-amerikanischen Psychiater und Neurologen Joseph Wilder (1895 bis 1976) war klar, dass Alfred Adler das Denken der Psychologie massgeblich beeinflusst hatte. Wilder formulierte den Satz, nach dem die „richtige Frage nicht lautet, ob man, sondern wie sehr man ein Adlerianer ist.“ (Riegel / Brandl 1977, S 100)

1933

erscheint das letzte Buch „Sinn des Lebens“ von Alfred Adler, welches die Einheit der Person, das Verbundensein mit der sozialen Umgebung und dem Kosmos betont.

Literaturverzeichnis

Adler Alfred, Der Sinn des Lebens, Fischer Verlag, Frankfurt 1973
Ansbacher Heinz und Rowena R. Ansbacher, Alfred Adlers Individualpsychologie, Ernst Reinhardt Verlag München 2004
Adler Alfred, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, Fischer Verlag, Frankfurt 1974
Adler Alfred, Die Technik der Individual-Psychologie: Zweiter Teil: Die Seele des Schwererziehbaren Schulkindes, 1930. S.39
Adler Alfred, Heilen und Bilden, Springer Verlag, Heidelberg, 1922
Adler Alfred, Liebensbeziehungen und deren Störungen, Alfred Adler Studienausgabe Bd. 3, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, S. 234f
Adler Alfred, Menschenkenntnis, Fischerverlag, Frankfurt 1966
Adler Alfred, Neue Leitsätze in der Individualpsychologie. Alfred Adler Studienausgabe Bd. 3, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, S. 83f
Bayer Herrmann, Coaching Kompetenz, Ernst Reinhardt Verlag, 1. Aufl., München 1995
Bruder-Bezzel Almuth, Persönlichkeit und neurotische Entwicklung, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017
Brunner Reinhard / Titze Michael, Wörterbuch der Individualpsychologie, Ernst Reinhardt Verlag, 2. Aufl., München 1995
Eife Giesela (Hrsg.) Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie, Vandenhoeck & Ruprecht; Auflage: 1. Aufl., Göttingen 2010, S. 284
Riegel Erwin / Brandl Gerhard, Ein Österreicher namens Alfred Adler, Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wien 1977
Vaihinger Hans, Die Philosophie des Als Ob, Leibzig 2014

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